NEULICH in der Liebesfalle – eine Konflikt-Story aus dem Alltag
- Jürgen Dostal

- 21. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Juli
„Wenn Kinder im Hafen der Mutterliebe auf Grund laufen.“
Danke, dass Sie in Sorge um mich jetzt diesen Artikel angeklickt haben. Aber nein, ich bin keiner Internetbekanntschaft auf den Leim gegangen.
Ich spreche heute nicht über Venusfallen, sondern über ein weitaus explosiveres Thema: das Minenfeld der Mutterliebe. Gefährlich, ich weiß. Noch gefährlicher, darüber zu schreiben.
Es ist mittlerweile gesellschaftsfähig
über Politik (AfD ist die neue Volkspartei)
über Geld (ungezählt sind die LinkedIn Postings, wo mir erfolgreiche Influencer mit ihren gemieteten Lambis erklären, dass ich finanziell am Tropf hänge)
und unsere Gefühle (Emotional Oversharing ist der neue Trend im öffentlichen Auskotzen von Gefühlen, z. B. wenn sich Lockenwickler in den Extensions verfilzen.) zu sprechen.
Aber es ist tabu, das Thema Kindererziehung anzusprechen. Eigentlich sollte ich mir an dieser Stelle ein großes Stoppzeichen auf die Zunge (oder die Fingerkuppen) tätowieren lassen.
Doch im Gegensatz zum Filz der Lockenwickler sprechen wir von einem Thema, das Langzeitwirkung hat und sich ähnliche wie Glenn Gloss in "Eine verhängnisvolle Affäre" raffiniert tarnt: emotional umsorgend, psychologisch gut gepolsterten, pädagogisch abgesicherten.
Die Wirkung könnte nicht verhängnisvoller sein: Lähmung.
Das Objekt: Das Kind.

Eine gute Idee – falsch gedacht
Neulich wollte einer meiner Freunde seinem mittlerweile zwölfjährigen Patenkind etwas fürs Leben mitgeben. Etwas, das nicht im Regal verstaubt oder nach zwei Wochen in den Untiefen seines TikTok-Feeds verschwindet. Also beschloss er, für den Jungen anzusparen und ihm zum 20. Geburtstag einen beachtlichen Geldbetrag zur Verfügung zu stellen – zweckgebunden: für eine Reise, eine Auszeit, ein Bildungsschritt. Nicht zum Verprassen, sondern zur Perspektivenerweiterung.
Er präsentierte sein Ansinnen der Kindesmutter – die bisher in seiner Wahrnehmung eine verstandesgeleitete, pragmatische Frau war – und wurde prompt eines Besseren belehrt.
„Also ehrlich gesagt finde ich das überhaupt nicht sinnvoll. Ich weiß am besten, was er braucht.“
Aha. Kein „Danke“. Kein „gute Idee“. Kein „Das besprechen wir gemeinsam mit ihm, wenn’s soweit ist.“ Stattdessen: Angriff.
Willkommen im Hafen der ewigen Geborgenheit
Was mein Freund für ein Missverständnis hielt, entpuppte sich als pädagogisches Dogma: Nur die Mutter weiß, was gut ist. Und zwar immer. Und zwar allein.
„Du würdest für dein eigenes Kind doch auch entscheiden, was richtig ist.“ Was jetzt? Mit 20 soll der Bengel nicht in Lage sein, eine Entscheidung zu treffen? Es ist ja jetzt nicht so, dass er den künftigen Jungmann in einer aufgetunten Blechschüssel um einen Baum gewickelt sehen wollte. Selbst im Fall einer kognitiven Dissonanz, verursacht durch matriarchalische Überdominanz, wäre der Vorschlag vielleicht die letzte Chance, mehr Grip in das Persönlichkeitsprofil des Zöglings zu pumpen.
Dazu ein Satz aus dem Buch Die Liebesfall des von mir sehr geschätzten Kinderpsychiaters Hans-Joachim Maaz. Dort heißt es:
„Die mütterliche Liebe kann zur Falle werden, wenn sie nicht zur rechten Zeit loslässt.“ (Maaz, S. 9)
Was gut gemeint ist, kann verheerend sein. Aus psychologischer Sicht handelt es sich um einen überfürsorglichen Erziehungsstil, der dem Kind zwar Sicherheit vermittelt, gleichzeitig aber die Entwicklung von Autonomie und Selbstverantwortung verhindert.
Die Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan zeigt: Menschen entwickeln sich am besten, wenn drei Grundbedürfnisse erfüllt sind – Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Wird Autonomie durch Kontrolle ersetzt, leidet nicht nur die Motivation, sondern auch das Selbstbild. Willkommen in der neuen Wirklichkeit, wo Mütter ihre ausgewachsenen Kinder zu Vorstellungsgesprächen begleiten.
Wenn Liebe zur Kontrolle wird
Ein überbehütender Stil führt langfristig zu:
Geringer Frustrationstoleranz
Entscheidungsunsicherheit
Mangel an Selbstwirksamkeit
Maaz beschreibt treffend:
„Im Glauben, das Beste für den anderen zu tun, ist schon reichlich Terror ausgeübt worden.“ (S. 12)
Und weiter:
„Auch die Eltern sind nicht die Quelle der Liebe, sie sind ihre Gärtner. Sie können die Liebe in ihren Kindern erblühen oder verdorren lassen.“ (S. 10–11)
Auch die Bindungstheorie von Bowlby & Ainsworth untermauert diesen Ansatz: Nur wenn sichere Bindung und Explorationsfreiheit zusammenkommen, entsteht seelische Reife.
Alltagszeichen der Liebesfalle
Wer wissen will, ob das Kind gerade zum freien Menschen oder in Abhängigkeit von mütterlicher Dauerdienstleistung heranwächst, achte auf folgende Signale:
Stillzeit bis in die Vorschule? Check.
Entscheidungsschwäche bei einfachsten Fragen? Check.
Der Jugendliche wird bei Tisch zuerst bedient, auch wenn Gäste dabei sind? Check.
Solche Kinder werden geliebt – aber nicht losgelassen. Sie werden bestätigt – aber nicht gestärkt. Sie bleiben emotional gebunden, statt psychischen Freiraum zu erhalten. Legendär dazu die Satire von Little Britain: David Williams kommt in der Folge BITTY nicht von der Mutterbrust los. Hier zum Wiedersehen: https://www.youtube.com/watch?v=FmD2Y6WxpIw&list=PLA2913F42DA046804&rco=1
Achten Sie bitte dabei auf den Disclaimer von Youtube: "Die Inhalte könnten verstörend sind." Es ist so: Mit war nicht bewusst, wie nahe die Realität an der Satire ist.
Väter: bitte antreten
Maaz betont die Rolle des Vaters als denjenigen, der das Kind aus der emotionalen Umklammerung der Mutter herausführt. Wörtlich spricht er davon, das Kind aus dem sicheren Hafen der Mutter in die Welt zu leiten. Auch das bestätigen psychologische Studien: Väter, die Autonomie unterstützen, fördern Selbstvertrauen, Risikokompetenz und Lebensfreude.
„Erziehung bedeutet nicht, das Kind zu halten, sondern es loszulassen mit Halt.“ (frei nach Maaz)
Leider bleibt Maaz uns die Antwort schuldig, wie solcherart von Liebe verzehrende Mütter auf den blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung hingewiesen werden können. Denn nicht selten sind die Männer/Väter machtlos. Dort wo eine Mutter sich als Kapitänin, Hafenmeisterin, Leuchtturmwärterin und Sicherheitsoffizierin in Personalunion sieht, können Väter nur mehr auf Tauchstation gehen.
Mein Fazit
Wenn Kinder im Hafen der Mutterliebe auf Grund laufen, dann nicht, weil sie das Wasser scheuen – sondern weil ihnen der Kompass fehlt. Überfürsorge ersetzt keine Richtung. Wer seine Kinder wirklich liebt, nimmt nicht das Steuer aus der Hand, sondern zeigt ihnen, wie man es hält – selbst bei Seegang.
Echte Reifung braucht Gegenwind, keine Umarmung mit Sicherheitsgurt. Deshalb ist es an der Zeit, mütterliche Liebe neu zu denken: nicht als Dauerauftrag fürs Leben, sondern als Starthilfe mit Ablaufdatum.
Denn: Wer nicht loslässt, verhindert eine spannende Reise ins Leben. Also: Lassen Sie Ihr Kind von Stapel laufen.
Quellen:
Maaz, Hans-Joachim: Die Liebesfalle. DTV 2021.
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development, and Well-Being. American Psychologist.
Ainsworth, M.D.S. (1978): Patterns of Attachment. Erlbaum.
Bowlby, J. (1988): A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development.
Konflikt-Barometer
Involvierte Personen: | 🧨🧨 |
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Mögliche Empathie: | 🕊 |
Lösungsoptionen: | 🕊🕊 |
Erzielbarer Kompromiss: | 🕊 |
Der Autor erlaubt sich in der Verarbeitung persönlicher Konflikte Mitteln der Satire. Das Konflikt-Barometer ist der nicht wissenschaftliche Versuch einer Bewertung von Konfliktsituationen. Es können je nach Ausprägung bis zu 3 Dynamitstangen bzw. Friedenstauben vergeben werden.





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