NEULICH, als die Verlässlichkeit uns verlassen hat.
- Jürgen Dostal

- vor 2 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Stunde
Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht. Aber ich habe immer öfter das Gefühl, dass ich mein Benehmen anpassen muss, weil andere… nun ja… keins mehr haben. Oder weil sich die Benimmregeln inzwischen schneller ändern als die Instagram-Filter.
Neulich also. Ich komme — ganz klassisch, ganz babyboomeresk — 3 Minuten zu früh ins Kaffeehaus meines Vertrauens. Ein Verhalten, das heute wirkt, als würde ich meinen Kalender in Stein meißeln. Mit meinem Hund schlängele ich mich durch die viel zu eng gestellten Tische. Nein – meine Bekanntschaft ist noch nicht da.

Und bevor Du jetzt schmunzelst: Nein, kein Date. Business Networking. Wir haben uns zwar über eine App kennengelernt, aber nicht über Tinder. Wobei – mal ehrlich – gerade dort ist die Unzuverlässigkeit ja eingepreist. „Ghosting“ gehört praktisch zum Geschäftsmodell. Sagt man zumindest. Ich kenne das ja nur vom Hörensagen.
Ich dachte also: LinkedIn müsste verlässlicher sein.
Ja. Dachte.
Verlässlichkeit hat uns verlassen
Zehn Minuten später war mein Gegenüber immer noch nicht da. Nach der üblichen Höflichkeitsfrist wollte ich nachfragen – bis ich im Chat die Nachricht sah, die sie zwei Stunden zuvor geschickt hatte:
„Bleibt es beim heutigen Treffen?“
Da stand ich nun. Im Kaffeehaus, mit Hund und Kaffee – und mit der Frage:
Wer ist jetzt unhöflich?
Ich – weil ich nicht jede Textnachricht in Echtzeit abarbeite?
Oder sie, weil Termine anscheinend als lose Empfehlung verstanden werden?
Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wurde mir klar: Die Verlässlichkeit hat uns verlassen.
Das hat Folgen. Schon bemerkt?
Ärzte verrechnen neuerdings Honorare fürs Nichterscheinen.
Restaurants setzen Dich auf die Blacklist, wenn Du wegen Magenverstimmung absagst.
Uber-Fahrer geben Dir ein schlechtes Rating, wenn Du nicht exakt an ihrem persönlichen Nullmeridian stehst.
Täglich grüßt die Erinnerungsschleife
Gleichzeitig wird uns jede Woche die digitale Leine enger gezogen. Letzte Woche allein drei Erinnerungs-SMS: VW-Händler zum Reifenumstecken, Zahnarzt, Fußpflege – alle überzeugt, dass ich kurz davor bin, meine Gehirnfunktionen einzustellen: „Nicht vergessen!“„Denk dran!“„Letzte Erinnerung!“
Ganz ehrlich: Ich bin doch kein Sieb. Und ja – liebe Dienstleister – ihr steht alle in meinem Kalender. Wenn ich etwas vereinbare, dann bin ich da. Das nennt man Verlässlichkeit. Ein Wort, das inzwischen wirkt wie ein Relikt aus grauen Vorzeiten.
Und während uns diese Verlässlichkeit abhandenkommt, verbreitet sich ein neuer Trend: „Ich will mich nicht festlegen.“
Neulich erklärte mir jemand: „Man will sich eben alle Optionen offenhalten. Kurzfristig entscheiden. Nach Gefühl.“
Ganz wunderbar. Und während ihr in Euch hineinfühlt, wäre es großartig, wenn ihr vielleicht ganz kurz die Nase in den Wind haltet, ob da draußen auch die Bedürfnisse andere Menschen existieren.
Wenn ein Date so kompliziert wie eine Mars-Mission wird.
Falls Du ebenfalls dieser Maxime etwas abgewinnen kannst, hier ein kleiner Realitätscheck:
Nein, niemand hält Termine frei, weil jemand so unfassbar einzigartig ist.
Nein, wir haben für die Party nicht extra Dieter Bohlen eingeflogen, damit Du Dich dann doch spontan für Netflix entscheidest.
Und nein, ich koche kein Soufflé punktgenau, nur damit Du mir erklärst, Du hättest noch Deiner Mutter das neue iOS-Update erklären müssen.
Und deshalb texten wir inzwischen in einem Takt, als würden wir eine Mars-Mission koordinieren:
Am Tag vorher: „Bleibt es bei morgen?“
2 Stunden vorher: „Bleibt es beim heutigen Treffen?“
30 Minuten vorher: „Bist du unterwegs?“
30 Minuten nach Beginn: „Wo bist du?“
60 Minuten später: „Hallo??“
Ein Kommunikations-Pingpong, bei dem ich nicht mitspielen möchte und das nur entsteht, weil man nicht mehr davon ausgehen kann, dass ein vereinbarter Termin… ein vereinbarter Termin ist. Ruf mich einfach an, ich bin der Sprache nicht nur schriftlich mächtig.
Ich will das nicht.
Ich will einfach nur in meinem Kaffeehaus sitzen und mich darauf verlassen können, dass jemand mit der klassischen Verspätung von 10 bis 15 Minuten erscheint.
Aber das war wohl früher.
Heute muss ich wohl mein Benehmen anpassen.
Weil die Verlässlichkeit uns verlassen hat.
Konflikt-Barometer
Involvierte Personen: | 🧨🧨🧨 |
Eskalation: | 🧨 |
Relevanz: | 🧨🧨 |
Mögliche Empathie: | 🕊🕊 |
Lösungsoptionen: | 🕊🕊🕊 |
Erzielbarer Kompromiss: | 🕊🕊🕊 |
Der Autor erlaubt sich in der Verarbeitung persönlicher Konflikte Mitteln der Satire. Das Konflikt-Barometer ist der nicht wissenschaftliche Versuch einer Bewertung von Konfliktsituationen. Es können je nach Ausprägung bis zu 3 Dynamitstangen bzw. Friedenstauben vergeben werden.





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