Werte, Abgrenzung und das Phänomen der Gutmenschen
- Jürgen Dostal
- 29. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Werte geben Orientierung. Sie sind für viele Menschen das, was ihnen Richtung gibt, Entscheidungen erleichtert und eine innere Stabilität verleiht. Doch Werte sind nicht nur ein persönlicher Kompass – sie dienen auch der Identifikation und Abgrenzung. Gerade Letzteres ist ein Aspekt, der zu Spannungen und Konflikten führen kann. In einer Gesellschaft, in der Werte zunehmend zum Aushängeschild des "richtigen" Denkens werden, stellt sich die Frage: Haben manche Menschen die besseren Werte? Und wo verläuft die Grenze zwischen moralischer Haltung und moralischer Überheblichkeit?

Werte als Abgrenzungsinstrument
Werte sind Teil unserer Identität. Sie zeigen, wer wir sind, woran wir glauben und wie wir handeln wollen. Gleichzeitig schaffen sie Differenz: Wir grenzen uns von Menschen ab, deren Werte nicht mit unseren übereinstimmen. Das kann im besten Fall zu Vielfalt führen, im schlimmsten Fall zu Polarisierung.
Beispiele dafür gibt es genug:
Religion: Wer sich einer bestimmten Glaubensrichtung zuordnet, grenzt sich automatisch von anderen ab – und wird im Zweifel ebenfalls ausgegrenzt.
Politik: Diskussionen über Parteien wie die AfD zeigen, wie sehr politische Werte emotional aufgeladen sind. Menschen, die andere Überzeugungen vertreten, werden schnell als "Feinde" wahrgenommen.
Gesundheit: Die Debatten rund um Covid-19, Impfpflicht und Maskenpflicht haben zu tiefen gesellschaftlichen Rissen geführt. Menschen beriefen sich auf ihre Werte – Freiheit, Gesundheit, Solidarität – und standen sich doch unversöhnlich gegenüber.
Auffällig dabei ist: Oft treten ausgerechnet die Menschen, die sich auf moralisch "richtige" Werte berufen, als Aggressoren auf. Sie setzen Zeichen, distanzieren sich, grenzen aus. Die "anderen" geraten in die Defensive, in eine Rolle, die sie nicht selbst gewählt haben. Manche schweigen, andere schlagen zurück.
Das ist keine Entschuldigung für verletzendes Verhalten – aber ein Hinweis darauf, dass moralische Überlegenheit nicht immer mit einem moralischen Vorteil einhergeht.
Die Schattenseite guter Werte
Werte können Orientierung geben – aber auch Machtinstrumente sein. Wer definiert, was "richtig" ist, stellt sich schnell über andere. Dabei entsteht eine soziale Dynamik, die weniger mit Ethik und mehr mit Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung zu tun hat.
Hannah Arendt, eine der einflussreichsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts (1906–1975), sagte einmal:
"Moralische Prinzipien können nur dann Orientierung geben, wenn sie nicht zum Zweck der Ausgrenzung benutzt werden."
Und genau das ist der Knackpunkt: Werte dürfen nicht zum Vehikel der sozialen Spaltung werden. Sie sollen verbinden, nicht trennen.
Denn: Wenn Werte zum Selbstzweck werden, verlieren sie ihren eigentlichen Wert. Dann sind sie nicht mehr Ausdruck von Haltung, sondern Instrument der Abgrenzung.
Vom guten Menschen zum "Gutmensch"
Kaum ein Begriff zeigt diese Dynamik so deutlich wie der des "Gutmenschen".
Im Jahr 2000 wurde der Begriff vom Duden noch relativ neutral definiert:
"jemand, der sich in einer [übertrieben] naiven Weise für moralisch gute Ziele einsetzt."
Doch bereits 2015 wurde Gutmensch zum Unwort des Jahres erklärt. Die Jury schrieb:
"Das Wort diffamiert diejenigen, die sich humanitär engagieren, und stellt moralisches Handeln als dumm, naiv oder weltfremd dar."
Heute wird der Begriff häufig als Kampfbegriff verwendet: Gegen Menschen, die sich für Diversität, Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit einsetzen. Ihnen wird nicht selten unterstellt, sie würden dies nur tun, um sich moralisch über andere zu stellen.
Doch was unterscheidet eigentlich einen "Gutmensch" von einem guten Menschen?
Der gute Mensch lebt seine Werte – still, klar, konsequent.
Der Gutmensch verwendet seine Werte als moralisches Druckmittel gegen andere.
Es ist ein schmaler Grat zwischen Haltung und Hybris.
Warum Gutmenschen sich in Konflikten oft schwer tun
Gerade Menschen, die sich stark mit ihren moralischen Werten identifizieren, erleben Konflikte häufig als Angriff auf ihr Selbstbild. Wer sich auf der "richtigen" Seite wähnt, neigt dazu, abweichende Sichtweisen vorschnell als falsch, unmoralisch oder gefährlich zu bewerten. Das erschwert die Fähigkeit, andere Perspektiven anzuerkennen und gemeinsame Lösungen zu finden. Statt in den Dialog zu gehen, dominiert das Bedürfnis, Recht zu behalten – und damit auch die eigene moralische Integrität zu verteidigen. So geraten Gutmenschen in eine paradoxe Lage: Sie wollen Gutes bewirken, verhindern aber durch ihre Unnachgiebigkeit häufig konstruktive Verständigung. Ein echter Beitrag zur Lösung wäre, die eigene Haltung mit Offenheit und Neugier zu verbinden – und nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt für gemeinsames Lernen zu begreifen.
Wie weiter?
Werte sind wichtig. Aber sie sind kein Besitz. Kein Absolutum. Und kein Mittel zur sozialen Kontrolle. Wer wirklich Haltung zeigt, braucht keine Abwertung anderer, um seine Werte zu leben.
Drei Impulse für den konstruktiven Umgang mit Werten:
Selbstreflexion vor Bewertung: Hinterfrage deine Werte. Woher kommen sie? Wozu dienen sie? Und wem?
Verbindung vor Abgrenzung: Werte sollten Brücken bauen, keine Mauern. Unterschiedliche Haltungen bedeuten nicht automatisch Gegnerschaft.
Diskurs statt Dogma: Echte Werte entfalten sich im Dialog. Nicht in der Empörungskultur.
Werte leben heißt nicht: immer recht haben. Sondern: offen bleiben.
Im nächsten Beitrag geht es darum, wie echte moralische Haltung aussehen kann – ohne erhobenen Zeigefinger. Und warum es Mut braucht, gut zu sein, ohne zum "Gutmensch" gemacht zu werden.
Comments